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18. Oktober 2014


Glückliche Friedenszeiten mit Besuchen bei Großeltern in Waldeck
Der Beginn des Ersten Weltkriegs in den Erinnerungen der britisch-wald. Prinzessin Alice (1)


Herzog Leopold von Albany mit seiner Tochter Alice - ein Foto aus den "Erinnerungen" Alices "For my Grandchildren"

Leopolds Witwe Prinzessin Helene zu Waldeck und Pyrmont 1889 mit ihren beiden Kindern Alice und Carl Eduard - die Geburt seines Sohnes sollte Leopold nicht mehr erleben, er starb 1884 in Cannes nach einem Sturz.
Repros: Jörg Schüttler

Von REBEKKA GERKE und JÖRG SCHÜTTLER

„Es gab traumhafte Spaziergänge in den Wäldern bei Arolsen und lange Fahrten durch malerische Dörfer und hügeliges, kultiviertes Land. Der Boden war karg und wurde von einem Paar Kühen oder einem Pferd und Kuh und sogar einer Frau und Kuh gepflügt, je nach den finanziellen Verhältnissen des Bauern. Eine lange Reise wurde gelegentlich zu dem Wohnsitz der Vorfahren unternommen, Schloss Waldeck, auf einem Hügel mit Blick auf die Eder, wo die berühmte Edertalsperre gebaut wurde, die von der R.A.F. [Royal Air Force] im Zweiten Weltkrieg gesprengt wurde.“

So erinnert sich die Enkelin der britischen Königin Victoria, Prinzessin Alice, in ihren 1966 verö&entlichten Memoiren an ihre Kindheit, die sie teilweise in Waldeck verbracht hat. Sie geht in diesem Buch auch auf persönliche Erlebnisse am Vorabend des Ersten Weltkriegs ein, der vor einhundert Jahren ausgebrochen ist.

Victorias Enkelkind

Alice wurde am 25. Februar 1883 als Tochter des Prinzen Leopold von Albany und seiner Frau Helene in Windsor Castle geboren – siehe Mein Waldeck 22, 24 und 25 / 2013 sowie 3 und 4 2014. Helene war eine Prinzessin von Waldeck und Pyrmont, die Tochter des Fürsten Georg Victor und seiner Gemahlin Helene von Nassau.

Das Kind wurde nach Leopolds früh verstorbener Schwester Alice genannt, der Großherzogin von Hessen-Darmstadt. Am 14. März 1883 schrieb Leopold an seinen Freund, den verwitweten Großherzog Ludwig IV. von Hessen:

„It is so pleasant to think that now there will be an Alice once more on our family, as you will remember I told you, if a girl was born, I meant to call her after dearest Alice-; and dear Louis, will you associate our child still more with her dear memory by standing Godfather? It would give us so much pleasure.“

Übersetzt: „Es ist so erfreulich daran zu denken, dass jetzt eine weitere Alice in unserer Familie sein wird, wie Du dich erinnern wirst, sagte ich Dir, wenn ein Mädchen geboren wird, beabsichtige ich, es nach der teuren Alice zu nennen. Und Du, lieber Louis, wirst Du unser Kind noch einmal mit ihrem teuren Gedenken verbinden, indem Du Pate wirst? Es würde uns so viel Freude machen.“

Ehe mit Alexander von Teck

Als Alice ein Jahr alt war, starb ihr Vater Leopold in Cannes. Mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder Carl Eduard (1884 bis 1954), dem späteren letzten Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha, besuchte sie häufig die waldeckische Verwandtschaft. Am 10. Februar 1904 heiratete sie in Windsor den Prinzen Alexander von Teck, der aus einer Seitenlinie des württembergischen Königshauses stammte. Alexander kam 1874 im Londoner Kensington Palace zur Welt – so wie seine Schwester Mary, die 1893 den späteren britischen König George V. heiratete. Wegen des wachsenden Hasses auf die Deutschen im Ersten Weltkrieg mussten Alexander und Alice ihre deutschen Adelstitel 1917 auf Wunsch von George V. ablegen, sie wurden stattdessen zum Earl und zur Countess of Athlone ernannt. Von 1924 bis 1930 amtierte Athlone als britischer Generalgouverneur in Südafrika und von 1940 bis 1946 in Kanada.

In Kanada empfingen sie zahlreiche Emigranten aus europäischen Fürstenhäusern, die im Zweiten Weltkrieg vor den vorrückenden deutschen Truppen geflohen waren, darunter die im Exil lebende ehemalige Kaiserin Zita von Österreich-Ungarn, Kronprinz Olaf von Norwegen und Königin Wilhelmina der Niederlande mit deren Tochter Juliana – die auch waldeckische Wurzeln haben: Wilhelminas Mutter, Königin Emma, ist Helenes ältere Schwester. 1946 bezog das Paar ein Apartment im Kensington Palace, wo der Earl of Athlone 1957 starb. Alice hatte mit ihrem Ehemann 1937 die britische Krone bei der Hochzeit der niederländischen Kronprinzessin Juliana mit Prinz Bernhard von Lippe-Biesterfeld vertreten und wurde ein Jahr später Patin von deren Tochter, der späteren Königin Beatrix.

Vier Krönungen erlebt

Alice war bei der Krönung von vier britischen Monarchen anwesend: am 9. August 1902 bei Edward VII., neun Jahre später bei George V., 1937 bei George VI. und schließlich am 2. Juni 1953 bei Elisabeth II.

Lange Jahre widmete sich Alice dem Royal Holloway College der University of London. Gelegentlich fuhr sie auch mit dem öffentlichen Linienbus durch die britische Hauptstadt. Als letztes lebendes Enkelkind der Königin Victoria starb Alice am 3. Januar 1981 im Alter von 97 Jahren im Kensington Palace. Sie wurde in der Saint George’s Chapel in Windsor Castle in Gegenwart von zahlreichen Mitgliedern der königlichen Familie beigesetzt. Im selben Jahr fand die Hochzeit von Kronprinz Charles mit Lady Diana Spencer statt, die später den Kensington Palace bewohnten.

Weihnachten 1965 hatte Alice ihre Autobiografie abgeschlossen, im folgenden Jahr wurde das Buch unter dem Titel „For my Grandchildren. Some Reminiscences of Her Royal Highness Princess Alice“ veröffentlicht. Wie der Titel schon sagt, ist das Buch ihren Enkelkindern gewidmet und der erste Satz im Vorwort lautet:

„Nun, wo ich über achtzig Jahre alt bin, habe ich mich entschlossen, Euch, meinen Enkelkindern und Urenkelkindern, einen Bericht über interessante und sonstige Persönlichkeiten, die in meinem langen Leben eine Rolle gespielt haben, abzulegen […] Diese Eindrücke reichen durch eine revolutionäre Zeit der Geschichte, beginnend mit den späten Victorianischen Jahren, über die kurze und glamouröse Edwardianische Ära, die Belastungen, Sorgen, Enttäuschungen und Siege von zwei Weltkriegen ertragend, und endend in der modernen Zeit, in welche die jüngeren Mitglieder meiner Familie geboren wurden.“

Im Arolser „Rokokoheim“

Im Kapitel „Childhood“ schildert die Countess of Athlone ihre Kinder- und Jugendzeit. Darin geht sie auch auf die Reisen zu ihren waldeckischen Großeltern ein, die sie zumeist in Begleitung ihres jüngeren Bruders Carl Eduard unternommen hat, Charlie genannt:

„Wir gingen nicht jedes Jahr nach Birkhall. In anderen Jahren nahm Mutter Charlie und mich mit nach Arolsen – das schöne Rokokoheim meiner deutschen Großeltern. Wir genossen es dort zu sein, obwohl die Reise immer ein Alptraum von Seekrankheit während einer acht bis zehn Stunden dauernden Überfahrt von Queensborough nach Flushing war, gefolgt von einer langen Zugfahrt ohne Speisewagen, so daß wir immer mit einem großen Lunchpaket fuhren. Die Wagen hatten zwei Abteile, die von einen Waschraum getrennt waren, und ich kann mich daran erinnern, daß ich das Geschirr in dem angrenzenden Waschraum abwusch. Um uns ruhig zu halten, hatten wir kleine Taschen mit winzigen Püppchen und Soldaten, und Charlie und ich hatten dort zu bleiben, wo wir hingesetzt wurden ohne uns wegzubewegen, außer wenn wir für unseren Mittagsschlaf hingelegt wurden. In Köln stiegen wir für meist eine Weile aus und wurden von dem seltsamen kleinen Konsul empfangen, Mr Niessen, dem Inhaber des besten Kölnisch Wassers, Maria Clementina Niessen. Er gab uns immer große, in Stroh eingewickelte Flaschen davon.

Langwierige Anreise

Der Zug muß sehr langsam gewesen sein, denn bei einer Gelegenheit, als wir ohne Mutter in der Obhut unseres Rechnungsprüfers, Sir Robert Collins, der Nanny und des Kindermädchens Kitty reisten, wollten Sir Robert und die Nanny, daß Kitty zu ihnen für ein Kartenspiel kam. Kitty reiste in der zweiten Klasse hinter dem Waschraum. Sie war nicht lange in unserem Erste-Klasse-Abteil, bis ich den Zugbegleiter auf dem Trittbrett außerhalb des Zuges entlanggehen sah. Er steckte seinen Kopf in unser Fenster und sagte, daß Kitty nicht in unserem Abteil sitzen könne, da sie zweiter Klasse reiste. Dann ging er außerhalb des Zuges weiter. Wir schienen uns zu jener Zeit nichts dabei zu denken, aber wenn ich zurückschaue, scheint es höchst außerordentlich. Nach dem Ende unserer Zugreise gab es dann eine endlose Fahrt mit der Kutsche von Warburg nach Arolsen. Ich sah meine waldeckische Großmutter nur einmal, die ich mir, wie ich bereits sagte, als körperlich behindert vorstellte.


Die Großeltern von Prinzessin Alice, Fürst Georg Victor und Fürstin Helene von Waldeck und Pyrmont.

Bei der Hochzeit von Fürst Friedrich zu Waldeck und Pyrmont und Prinzessin Bathildis von Schaumburg-Lippe 1895 in Arolsen - hintere Reihe: Prinz Otto, Großherzog Adolph von Luxemburg, Friedrichs Schwester Prinzessin Pauline von Bentheim und ihr Mann, Prinz Alexis Bentheim, sowie das Brautpaar Bathildis und Friedrich. Vordere Reihe: Königin Wilhelmina der Niederlande, Friedrichs Stiefmutter Louise - von Alice "Grandmama Waldeck" genannt ~. sowie Prinz Carl Eduard und Prinzessin Alice.

Alice und Alexander Athlone in Durban. Der Graf amtierte von 1924 bis 1930 als britischer Gerneralgouverneur in Südafrika.

„Onkel Bertie dachte, daß Wilhelm überheblich und lästig sei“
Der Beginn des Ersten Weltkriegs in den Erinnerungen der britisch-waldeckischen Prinzessin Alice (2)


Großvater Waldeck" Fürst Georg Victor

Eine Ansicht des Arolser Schlossteiches zu Beginn des 20. Jahhunderts. Prinzessin Alice liebte die Landschaften Waldecks, wie aus ihren "Erinnerungen" hervorgeht. (Foto: WLZ-Archiv)

Das letzte waldeckische Fürstenpaar: Bathildis und Alices Onkel Friedrich.

Sie lag auf einem Sofa in einem verdunkelten Raum und sprach englisch mit einer schönen freundlichen Stimme. Sie hatte ein bezauberndes kleines Tee-Service bei sich und ließ mich für uns beide Schokolade einschenken und gab sie mir. Sie trug eine eng anliegende, altweltliche Kappe aus Samt, die sogar ihre Ohren bedeckte, aber ich fürchtete mich nicht vor ihr. Sie starb, als ich fünf war.

IGroßvater Waldeck war eine Persönlichkeit mit Bart und einem langen, wie Nadeln gewachsten Schnurrbart. Er verwöhnte mich sehr und folglich verehrte ich ihn. Mittagessen wurde um 2 Uhr nachmittags serviert, und jedermann kleidete sich wie für ein Abendessen. Wir Kinder kamen am Ende, bis wir alt genug waren, um mit den Erwachsenen zu speisen, aber zu der Zeit war die Abendgarderobe bereits aufgegeben worden. Die Damen trugen sehr lange, steife Schleppen und wir setzten uns auf sie, wenn Mutter oder jemand anderes sich über das rutschige Parkett bewegte.

Alles war sehr "Alte Welt"

Leere Fingerschalen und blaue Gläser, gefüllt mit Pfe&erminzwasser wurden nach dem Dessert neben jeden Gast gestellt. Die Speisenden füllten aus dem blauen Glas ihren Mund, schmatzten, gurgelten und spuckten in die Fingerschalen. Uns war es nicht erlaubt, an diesem Sport teilzunehmen, sondern wir mussten das Wasser über unsere Finger gießen. Alles war sehr ,alte Welt‘

Großvater heiratete als seine zweite Ehefrau Louise von Schleswig-Holstein, die eine Cousine ersten Grades und ein häßliches Abbild von Queen Alexandra war. Ich war mit ihnen und meinem Onkel Fritz (Waldeck) in Arolsen, als ich eingeladen wurde, als Brautjungfer von May Teck zu ihrer Hochzeit mit Onkel George zugegen zu sein.

Meine Freude war groß, wie die von Miss Potts, meiner Gouvernante, da wir einen langen Aufenthalt in Arolsen herzlich satt hatten und die Aussicht heimzukehren eine Freude war. Jedoch, zu meinem großen Ärger, traf ein anderes Telegramm ein und besagte, sich nicht zu mühen, da die kleine Alice Battenberg meinen Platz einnehmen würde, überhaupt ein viel hübscheres Mädchen, aber ich überwand nie diese Enttäuschung.

Es gab traumhafte Spaziergänge in den Wäldern bei Arolsen und lange Fahrten durch malerische Dörfer und hügeliges, kultiviertes Land. Der Boden war karg und wurde von einem Paar Kühen oder einem Pferd und Kuh und sogar einer Frau und Kuh gepflügt, je nach den /nanziellen Verhältnissen des Bauern. Eine lange Reise wurde gelegentlich zu dem Wohnsitz der Vorfahren unternommen, Schloß Waldeck, auf einem Hügel mit Blick auf die Eder, wo die berühmte Edertalsperre gebaut wurde, die von der R.A.F. im Zweiten Weltkrieg gesprengt wurde.

Hochzeit in Arolsen

1895 heiratete mein Onkel Fritz die reizende und faszinierende Bathildis von Schaumburg-Lippe und Mutter ging zu deren Hochzeit nach Böhmen, während Charlie, Miss Potts und ich in Arolsen zurückblieben, um deren Einzug dort zu erwarten. Dies war ein großer Anlaß und es waren Scharen von Verwandten und Freunden da, die meist älter waren als die reizende junge Braut in ihrem blasslilanen Seidenkleid. Charlie und ich traten vor, um ihr ein Bouquet zu überreichen, und als die Jahre dahin gingen, lachten wir viel und machten viele Witze über die seltsamen Freunde der Familie aus Arolsen, die alle recht kritisch gegenüber der neuen jungen Herrin waren. Sie schloss Charlie und mich für immer in ihr Herz und wir verbrachten viele glückliche Tage zu Besuch bei ihr und Onkel Fritz und ihren entzückenden Kindern, bis der Erste Weltkrieg uns vollständig trennte und unsere Beziehungen zu den lieben alten Menschen, die wir so gut kannten, veränderte.“

Mit „Onkel Fritz“ ist Friedrich gemeint, der letzte regierende Fürst von Waldeck und Pyrmont, der 1893 den Thron bestiegen hatte. Im November 1918 erklärte ihn ein Arbeiter- und Soldatenrat für abgesetzt.

Im Kapitel „The world war 1914 – 1918“ beschreibt Alice die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Sie geht darin auch auf die persönlichen Rivalitäten zwischen dem britischen König Edward VII. und seinem deutschen Neffen, Kaiser Wilhelm II., ein. Edward – „Onkel Bertie“ – hatte erst 1901 als fast 60-Jähriger den britischen Thron bestiegen. Er war seit 1863 mit der dänischen Prinzessin Alexandra verheiratet, die durch ihre Schönheit und Beliebtheit eine Mode-Ikone der damaligen Zeit war. Nach Edwards Tod 1910 wurde sein Sohn George V. König. Er war mit Mary von Teck verheiratet, der Schwester von Alices Ehemann Alexander.

Ärger mit Wilhelm II

Lord Richard Haldane amtierte von 1905 bis 1912 als britischer Heeresminister. Die Regierung entsandte ihn 1912 nach Berlin, er sollte erreichen, dass die Deutschen das Tempo ihres Flottenausbaus drosselten. Seine berühmte Mission scheiterte. Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg war zwar zu Konzessionen bereit, doch Kaiser Wilhelm II. und der Staatssekretär des Reichsmarineamtes, Alfred von Tirpitz, wollten weiterrüsten für Deutschlands „Platz an der Sonne“.

Alice hatte 1904 Alexander von Teck geheiratet, den sie in ihren „Erinnerungen“ für ihre Enkel als „Großvater“ bezeichnet. Ihr Bruder Carl Eduard war 1905 Regent des Herzogtums Sachsen-Coburg-Gotha geworden – den Namen der Familie trugen bis 1917 auch die britischen Monarchen. Alice beschreibt, warum Großbritannien seinen Weg der Neutralität aufgegeben und 1907 mit Frankreich und Russland die „Triple Entente“ gebildet hat. Und sie schildert aus dem britischen Blickwinkel, wie es 1914 zum Krieg gekommen ist:

„Es war zu jener Zeit und später zurückblickend schwierig, die deutsche Diplomatie in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Durch die Demütigung Russlands nach Österreichs Beschlagnahmung von Bosnien und der Herzegovina; durch die Bedrohung Frankreichs durch die aggressive Rede des Kaisers in Tanger 1905; durch die Agadir Demarche 1910; durch Herausforderung der Seeherrschaft der britischen Flotte und Verweigerung des Angebots einer ,Flottenpause‘ zwangen sie Großbritannien, sich Frankreich zuzuwenden, dessen Flotte sich um Englands Interessen im Mittelmeer kümmern konnte, während die Royal Navy die Nordküste von Frankreich schützte und sich mit der deutschen Bedrohung in der Nordsee herumschlug.

Imperiale Politik


Das deutsche Kanonenboot "Panther" löste mit seinem Erscheinen vor Agadir 1911 die zweite Marakko-Krise aus.

Alice beschreibt die Irritationen, die der junge und unstete Kaiser Wilhelm II. mit seiner imperialen Politik auslöste: Anders als Kanzler Otto von Bismarck wollte er ein weltumspannendes Kolonialreich, durch das Deutschland einen „angemessenen“ Platz unter den Großmächten einnehmen sollte. Dafür ließ er die Kriegsmarine massiv ausbauen – was die Seemacht Großbritannien nervös machte. Bei einem Staatsbesuch in Tanger forderte er 1905 die Unabhängigkeit Marokkos, was französischen Interessen zuwiderlief. Die Krise wurde friedlich beigelegt, doch 1911 brach die zweite Marokko-Krise aus, als Wilhelm Kriegsschiffe nach Agadir entsandte, angeblich, um deutsche Handelsinteressen zu wahren – ein weiteres Beispiel für die berüchtigte „Kanonenboot-Politik“ der Zeit. Ein Krieg der Großmächte wurde gerade noch abgewendet, Briten und Franzosen schlossen sich danach noch enger gegen Deutschland zusammen. Alice schreibt weiter:

Im Frühjahr 1912 antwortete England auf die Bedrohung mit der eindrucksvollsten Zurschaustellung der Seemacht, die die Welt je gesehen hatte. Nach einer realistischen Schlachtübung, an der jede Art von Schi&en teilnahmen und scharfe Munition benutzten, stellten sich die Seemänner auf dem Deck ihrer Schiffe auf und gaben König George einen mächtigen Beifallsruf, als er in der königlichen Yacht durch die Linien segelte. Abgeordnete aus dem Ausland sahen von der Marineyacht ,Enchantress‘ aus zu. Die Navy zeigte, daß sie die Wichtigkeit des Ereignisses verstand.

Ich denke, daß jetzt allgemein angenommen wird, daß die Auseinandersetzungen zwischen Onkel Bertie und dem Kaiser nur geringen Einfluss auf die britisch-deutsche Rivalität hatten, aber darüber bin ich mir nicht so sicher. Natürlich gab es nur geringe Rechtfertigung für Wilhelms Vorwurf, daß sein Onkel der Erzintrigant in einer Verschwörung war, um Deutschland ,einzukreisen‘. Es war die Außenpolitik seines eigenen Landes, die dies hervorbrachte. Ihre persönlichen Di&erenzen können auf verschiedene Art erklärt werden.

Streit um Status

Da ich beide so gut kannte, denke ich, daß ich etwas über die Feindseligkeit zwischen meinen Onkel Bertie und Cousin Wilhelm sagen sollte. Alles begann, als Onkel Bertie Tante Alix heiratete, die nichts mit der königlichpreußischen Familie zu tun haben wollte, weil sie als eine Tochter des Königs von Dänemark den Preußen nie vergeben konnte, daß sie die dänischen Provinzen Schleswig und Holstein einnahmen. [Gemeint ist der deutsch-dänische Krieg 1864.] Obwohl Wilhelm keineswegs für diese Unaussprechlichkeit zu beschuldigen war, übertrug sie auf ihn den tiefen Hass, den sie seit jeher für seine Familie und für alle Preußen hegte. Leider tat Wilhelm durch sein arrogantes Benehmen nichts dazu, dieses Verhältnis zu verbessern.

Selbst ohne die Intervention von Alix ist es zweifelhaft, daß beide Männer je ehrliche Freunde hätten sein können. Onkel Bertie dachte, daß Wilhelm überheblich und lästig sei, und Wilhelm fand, daß Onkel Bertie ihn herablassend behandelte. Als Wilhelm Kaiser wurde, meinte er, daß sein neuer Status es erforderlich machte, daß Onkel Bertie (der damals nur Prince of Wales war) ihn mit dem Respekt behandelte, der einem Monarchen gebührte und nicht wie ein Onkel, der von oben herab mit seinem Ne&en sprach. Großmutter Victoria dachte, daß dies Unsinn wäre, und stellte sich mit ihrem Sohn gegen ihren Enkel […]

Liebe zu England

Onkel Bertie selbst gab dem ,König‘ der Hawaiiinseln Vorrang gegenüber seinem Schwager, dem deutschen Kronprinzen [Wilhelms Vater Friedrich III., der 1888 nur für 100 Tage regieren sollte], weil er ein König war, und als der Kronprinz protestierte, erwiderte Onkel Bertie, daß der Hawaianer entweder ein König oder ein gewöhnlicher Neger wäre, und wenn er nur ein Neger wäre, hätte er kein Recht überhaupt zugegen zu sein!

Wie dem auch sei, es muss zugegeben werden, daß, obwohl Wilhelm Großmutter oft über Worte hinaus ärgerte, sie seine Ergebenheit gegenüber ihrer Person schätzte und tief im Inneren liebte er England und englische Sitten, obwohl er bei allem den gegenteiligen Eindruck machte.


Alices Bruder Carl Eduard als regierender Herzog in Coburg.

König Edward mochte seinen Neffen Kaiser Wilhelm II. nicht.

Alices "Onkel Bertie", der britische König Edward VII. und seine Frau Alexandra, "Tante Alix", eine dänische Prinzessin.

„Mit allem Säbelrasseln war Wilhelm die letzte Person, die Krieg wollte“
Der Beginn des Ersten Weltkriegs in den Erinnerungen der britisch-waldeckischen Prinzessin Alice (3)


Alice und Alexander von Teck/Athlone mit ihren Brautjungfern nach ihrer Hochzeit 1904.

Die britische Sicht auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges schildert Prinzessin Alice in ihren für ihre Enkel verfassten „Erinnerungen“. Die „Königliche Hoheit“ und Countess of Athlone ist die Tochter des jüngsten Sohnes der britischen Königin Victoria, Leopold, und der waldeckischen Prinzessin Helene. Sie ist als Angehö-rige des britischen Hofes eine besondere Zeitzeugin. Hier der zweite und letzte Teil des Beitrags, er setzt ein mit der Haltung des deutschen Kaisers Wilhelm II. zum Burenkrieg der Briten. Wieder schwingen die Spannungen mit König Edward VII. mit – für Alice „Onkel Bertie“.

Er [der deutsche Kaiser Wilhelm II.] genoss vor allem die Segelregatten in Cowes und ging bei jeder möglichen Gele-genheit dorthin, lebte an Bord seiner Yacht ,Hohenzollern‘ und nahm an den Regatten mit seiner Segelyacht ,Meteor‘ teil. Er war ein starker Mann, der nie wusste, was er wollte.

Auf Onkel Berties Initiative legten er und Onkel Bertie bei einer Gelegenheit ihre Differenzen bei und es soll Onkel Bertie angerechnet werden, daß er den ersten Annäherungsversuch machte.

Mit all seinen Fehlern muß eines zugegeben werden, daß Wilhelm den Mut zu seinen Überzeugungen hatte, ebenso wie Zuversicht in seine Neigungen. Zum Beispiel habe ich bereits erwähnt, daß während des Burenkrieges ganz Deutschland heftigst antibritisch und pro-burisch war.“

Die Buren, hochdeutsch „Bauern“, waren Siedler, die 1652 für die Niederländische Ostindien-Kompanie eine Kolonie am südafrikanischen Kap der guten Hoffnung gegründet hatten. Niederländische, aber auch deutsche und französischsprachige Einwanderer ließen sich dort nieder und gründeten vier Republiken. Die schlossen sich 1860 zur Südafrikanischen Republik zusammen. Die Briten eroberten sie in zwei brutalen „Burenkriegen“ bis 1902 – damals richteten sie erstmals Konzentrationslager ein. Mehr als 26000 burische Zivilisten starben an Hunger und Krankheiten. Viele Deutsche sympathisierten damals mit den Buren. Auch Kaiser Wilhelm II. ließ seine Unterstützung erkennen, 1896 schickte er ein Telegramm an Präsident Paulus „Ohm“ Krüger, in dem er zu militärischen Erfolgen der Buren gratulierte. Die Briten reagierten empört.

„Ich war zu jener Zeit in Deutschland, als mein Bruder gerade in Thronfolge in Coburg antrat, und wir litten beide sehr unter der feindseligen Atmosphäre, die uns umgab. Trotz des Krüger-Telegramms und der Verachtung, mit wel-cher die deutsche Führung über unsere britischen Generäle sprach, erinnere ich mich mit Vergnügen, daß während eines dieser ,Kriegsspiele‘, die auf einer demütigenden britischen Niederlage basierten, Wilhelm die Rolle des briti-schen Kommandeurs übernahm und demonstrierte, daß unter denselben Umständen keiner seiner Generäle anders gehandelt hätte.

Orden für Lord Roberts

Danach schrieb er einige Ratschläge über die Führung des Feldzugs an Großmutter [Queen Victoria], doch dies war eine jener Situationen, in denen ,we were not amused‘. Ich dachte auch, daß Wilhelm moralische Stärke zeigte und deutsche Kritik verachtete, als er England zu einer Zeit einen offiziellen Besuch abstattete, in der wir militärische Rückschläge in Südafrika durchmachten, ebenso wie durch die Verleihung eines deutschen Ordens an Lord Roberts [der Feldmarschall Lord Frederick Roberts, der bis 1901 Oberbefehlshaber der britischen Truppen in Südafrika war].

Wilhelms Anwesenheit bei Großmutters Tod und andere versöhnliche Gesten zum Ende des Burenkrieges hatten bereits einiges geholfen, ihm die Gunst der englischen Öffentlichkeit wiederzugeben. Ich habe bereits geschrieben, daß er auf Onkel Berties Beerdigung mehr Aufmerksamkeit auf sich zog als alle anderen anwesenden Monarchen.

Da Wilhelm als gekröntes Haupt nicht bei Onkel Georges Krönung anwesend sein würde, die auf den Juni 1911 anbe-raumt wurde, entschied er sich einige Wochen vor diesem Ereignis nach England zu kommen, um der Enthüllung des Victoria Memorials vor dem Buckingham Palace beizuwohnen. Einmal mehr baute er den guten Eindruck aus, den er bei früheren Besuchen gemacht hatte. Er wurde zu diesem Anlass von der Kaiserin begleitet und ich kann mich an die Szene erinnern, als wäre es gestern gewesen.

Wilhelm trug deutlich seine Bewunderung für die schmucke Darbietung zur Schau, die von den Truppen geboten wur-de, als sie in Galauniform um das beeindruckende Denkmal marschierten. Mutter und Rupert und seinem Cousin Leo-pold, dem ältesten Sohn meines Bruders Charlie, war es erlaubt, dem Ablauf mit ihren Nannys von einem Fenster des Buckingham Palace aus zuzusehen. Später nahm ich sie mit, um die Kaiserin zu sehen […].

Wettrüsten geht weiter

Wilhelm war offensichtlich mit seinem Besuch zufrieden, aber ich bezweifle, daß ihm bewusst war, daß die Briten unter ihrer Liebe für Prunk und natürliche Höflichkeit gegenüber hochgestelltem Besuch auf ihr internationales Prestige stolz und zutiefst eifersüchtig bedacht auf die bisher unbestrittene Vormachtsstellung ihrer Marine waren. Deutschlands Herausforderung der britischen Flotte war bereits der Grund für Beunruhigung in Regierungskreisen, und diese Sorge drang leicht zu der Bevölkerung durch, die sehr feindselig gegenüber jeglicher Bedrohung ihrer ma-ritimen Vormacht war, von deren Existenz sie abhingen. Kurz nachdem Großvater und ich nach England zurückkehr-ten, erfolgte das Scheitern der Haldane Mission in Deutschland und der ,Marineferien‘, um das Wettrennen der Mari-nerüstungen zu einem Halt zu bringen. Aber das bei weitem größte Aufsehen wurde durch Lloyd Georges Mansion House Rede 1911 verursacht. Alles wies auf die Aussicht eines Krieges hin, aber es schien, daß eher die Umstände als die Handlungen von Königen oder Kaisern hauptsächlich dafür verantwortlich waren.

„Generäle wollten Krieg“

Mit all seinem Säbelrasseln war Wilhelm die letzte Person, die Krieg wollte. Er liebte die Schau militärischer Stärke, aber ich bin sicher, daß es seine Generäle waren, die tatsächlich Krieg wollten. Ich erinnere mich, daß wir, als Groß-vater und ich die Kaiserin Eugenie in Farnborough besuchten, diskutierten, inwieweit Wilhelm verantwortlich war; sie dachte nicht, daß er es wäre, bemerkte aber ‚wenn der Fluss den Wasserfall erreicht hat, kann keine irdische Macht ihn stoppen‘, und das war die Ansicht, zu der wir gelangten. Dies, kommend von der Kaiserin, die nicht dem Kaiser geneigt, aber grundsätzlich gerecht in ihren Urteilen war, trug für uns viel Überzeugungskraft.

Wilhelm hatte außerdem einen Beweis von seinem Wunsch, Kriege zu verhindern, geliefert, als er im November 1912 persönlich intervenierte, um Österreich von einem Krieg gegen Serbien abzuhalten. Auf der anderen Seite war er sich bewusst, daß, käme es zu einem Krieg mit Frankreich, Deutschland nicht die Absicht hätte, seine Verp0ichtungen einzuhalten, die belgische Neutralität nicht zu verletzen. Noch schien er zu denken, daß etwas Unehrenhaftes dabei wäre. Als er sich am Ende eines sehr freundlichen Besuches von König Albert verabschiedete, wandte er sich an seinen Gastgeber und sagte: ,Haltet Euch zu uns.‘ […]

Großvater und ich gingen 1912 nach Deutschland, um meinen Bruder Charlie zu besuchen. Da Charlie den Rang eines Generals innehatte, musste er einige wichtige bayrische Manöver besuchen und lud Großvater ein, ihn zu begleiten. Großvater ritt mit ihm und ihm wurden sehr tiefe verborgene Gräben gezeigt, in denen Soldaten, wie ich annehme, im Grabenkrieg ausgebildet wurden. Sie trugen Schanzwerkzeug als Teil ihrer Ausstattung, und Großvater erzählte mir nachher, daß unsere Truppen in den ersten Tagen des Krieges in Frankreich dadurch im Nachteil waren, da sie nicht mit solch nützlicher Ausrüstung ausgestattet waren. Die Household Cavalry musste ihre Bajonetten benutzen.

General French schlug vor, daß Großvater dem Kriegsministerium alles, was er bei seinem Besuch über die deutschen militärischen Vorbereitungen erfahren hatte, berichten sollte, in der Hoffnung, daß wir uns dieses Wissen bei dem Training unserer eigenen Streitkräfte zunutze machen könnten. Großvater sagte, daß er nur ein rangniederer Offizier sei und wahrscheinlich niemand in hoher Stellung seiner Meinung viel Beachtung schenken würde. French empfahl ihm dann, ein Memorandum für das Kriegsministerium vorzubereiten, was Großvater ablehnte, wissend, daß seine Warnungen entweder ignoriert oder in einer Schublade in Whitehall begraben würden.

Wenn ich nun nach dem Ablauf eines halben Jahrhunderts auf diese bayrischen Manöver mit meinem Bruder zurück-schaue, kann ich mir nicht helfen, an Wilhelm zu denken. Er war niemals so glücklich, wie wenn er von einer glänzen-den Uniform in eine andere wechselte, auf seinem Weg Manövern beizuwohnen, den Gruß beim Defilieren abzuneh-men, eine Parade zu inspizieren oder eine provozierende Rede zu halten. Er hielt verschiedene solcher Reden während der drei Jahre, in denen wir in Potsdam residierten, wenn er Charlies Kadettenschule dort besuchte.


Alice charakterisiert den deutschen Kaiser Wilhelm II.

Der preußische Feind

Er predigte sehr gern und einmal, nach einem Gottesdienst an Bord der ,Hohenzollern“‚ inspizierte er die Mannschaft. Vor einem jungen Bayern blieb er stehen und fragte ihn, ob er aufmerksam der Predigt zugehört habe. ,Ja, Majestät“‚ antwortete der Seemann. ,Nun‘, entgegnete der Kaiser, um ihn zu testen: ,Wer sind die inneren und äußeren Feinde?‘ Nach einem Moment des Nachdenkens antwortete der Bursche: ,Der äußere Feind sind die Franzosen.‘ ,Das ist richtig‘, sagte Wilhelm, ,und wer sind die inneren Feinde?‘ Ohne einen Moment zu zögern antwortete der junge bayerische Seemann: ,Die Preußen!‘

Wilhelm erzählte uns diese Geschichte über sich selbst und war offensichtlich sehr amüsiert von dem Vorfall.“


Der südafrikanische Präsident Paulus "Ohm" Krüger.

Die Briten sperrten burische Zivilisten während der brutal geführten Kriege in Konzentrationslager. Viele starben. ( Archiv)

Alices Großmutter als Statue am Londoner Victoria Memorial.

Alice' Bruder Carl "Charlie" Eduard als Herzog in Coburg.

„Blutigster Krieg seit dem Andämmern der Zivilisation“
Der Beginn des Ersten Weltkriegs in den Erinnerungen der britisch-waldeckischen Prinzessin Alice (4)


Prinzessin Alice in der Robe, die sie 1911 bei der Krönung von König Georg V. trug.
(Foto: Aus den "Erinnerungen" der Prinzessin Alice)

Schrecken des Ersten Weltkriegs: Ein deutscher Stoßtrupp versucht, in gegnerische Schützengräben vorzudringen.

Wir empfanden unsere Anwesenheit gelegentlich als sehr unangenehm, da die Deutschen, die gewöhnlich so freundlich waren, oft von ,Dem Tag‘ prahlten und sich darauf mit einer Inbrunst freuten wie die, mit der die Juden die Ankunft des Messias erwartet hatten mussten.

Charlie flehte Großvater an, Onkel Georg zu sagen, daß von Tirpitz zu mehr als einer Gelegenheit vorhersagte, daß Deutschland den Krieg erklären würde, sobald der Nord-Ostsee-Kanal 1915 fertiggestellt sein würde. Großvater übermittelte diese Nachricht, über die der König und Haldane die Nase rümpften.

Während wir in Reinhardsbrunn waren, flogen wir in einem Militärzeppelin nach Gotha. ,Foxy‘ (der Listige; Anmerkung des Übersetzers) Ferdinand [der König von Bulgarien] begleitete uns. Wir fanden, der Zeppelin wäre extrem fragil. Die riesige Hülle wirkte wie eine teilweise gefüllte Segeltuchtasche, die sich mir auf eine sehr alarmierende Art zu zerknittern, zu verdrehen, auszudehnen und zusammenzuziehen schien. Wir sahen Taube-Flugzeuge kämpfen und Bombenattrappen auf Ziele am Boden abwerfen. Kaum erträumten wir uns, daß zwei Jahrzehnte später echte Bomben auf uns geworfen werden würden. Die schrecklichen Bombardierungen britischer Städte im Zweiten Weltkrieg haben die Bombardierungen, die im Ersten Weltkrieg stattfanden, vollständig überschattet, obwohl letztere zeitweise genügend erschreckend waren und viele Verluste verursachten. Zwischen diesen militärischen Aktivitäten machten wir einige wunderbare Hirschjagden in den thüringischen Wäldern.

„Kriegswolken“ ziehen auf.


November 1918: Kaiser Wilhelm (Mitte) flieht aus Berlin.

Während des ganzen Jahres 1913 und teilweise 1914 verschlechterte sich die internationale Situation und Kriegswol-ken verdunkelten sich über uns. Ich war so eingenommen von der Überzeugung meines Bruders, daß der Krieg nicht ausbrechen würde, bis von Tirpitz den Nord-Ostsee-Kanal 1915 fertiggebaut hatte, daß ich mich von dem Gedanken getröstet fühlte, daß wir uns mindestens auf zwei oder drei weitere Friedensjahre freuen konnten. Mein Bruder kam im Juli1914 zu Besuch, um mich in Windsor zu besuchen, aber er wurde nur von seinem Rechnungsprüfer begleitet und ließ seine Ehefrau und Familie in Coburg zurück.

Während er bei uns war, kam Nachricht von der Ermordung des Erzherzogs Franz von Österreich, den ich während seines Staatsbesuchs in Windsor gesehen hatte, als Onkel Arthur Connaught die Federn aus dem Hut der Königin von Italien schoß. Charlie und sein Rechnungsprüfer waren von dieser Nachricht zutiefst erschüttert, schauten einander bestürzt an und riefen beide: ,Das bedeutet Krieg.‘

Nachdem wir unglücklich Abschied genommen hatten, kehrte Charlie zu seiner Familie nach Coburg zurück, uns we-gen der schlechten Nachricht früher als beabsichtigt verlassend. Es ist nicht schwierig, sich seine Gefühle vorzustellen – geboren und ausgebildet in England, entwurzelt, während er noch ein Junge war, nur um in ein fremdes Land gebracht zu werden, wo er neue Freunde finden musste, eine andere Sprache sprechen, sich an einen anderen Lebens-stil anpassen mußte, die Verwaltung von einem deutschen Fürstentum übernehmen mußte, während er noch ein Ju-gendlicher war, um schließlich in einen langen und erbitterten Krieg zwischen seinem Geburtsland und dem Land, das ihn adoptiert hatte, verstrickt zu werden.

Diplomatische Stümpereien

Der Erzherzog und seine Frau wurden am Sonntag, den 28.Juni, ermordet, und ein quälender Monat verstrich, in dem wir darauf warteten, unser Schicksal zu erfahren. Zunächst erschien es, als würde die Krise vorübergehen. Wilhelm schien sicherlich nicht irgendeinen ernsten Konflikt zu erwarten, denn kurz nach dem Attentat ging er auf seine übliche Sommerkreuzfahrt in der Nordsee. Doch nach vielen diplomatischen Stümpereien erlaubten die Großmächte den Taten eines anarchistischen Kleingeistes, die Welt in den blutigsten Krieg zu stürzen, der die Menschheit seit dem Andämmern der Zivilisation behaftet hatte.

Am 28. Juli erklärte Österreich Serbien den Krieg und dieses Mal war Wilhelm unfähig oder unwillig, dies zu verhin-dern. In der folgenden Woche, der folgenschwersten in der Geschichte, ereigneten sich die Dinge mit zerschlagender Geschwindigkeit. Russland mobilisierte sofort und am 2. August verlangte Deutschland für seine Truppen Durchlass durch Belgien, um Frankreich anzugreifen. Dieses Ultimatum wurde mutig von dem neutralen Belgien zurückgewiesen.

Es folgten zwei Tage von quälender Unsicherheit. Ich erinnere mich, daß Sir Hugh und Lady Cli6ord zu dieser Zeit bei uns waren und wir in Finsternis versanken, befürchtend, daß England möglicherweise Belgien im Stich lassen könnte. Jedoch, in der Nacht vom 4. August erklärten wir Deutschland wegen der angedrohten Verletzung der belgischen Neutralität den Krieg. Wir waren überaus erstaunt über den Jubel, mit dem die Briten diese Nachricht aufnahmen. Doch ahnten sie nicht, daß sie über vier Jahre im Krieg sein und mehr als eine Million Briten ihr Leben verlieren würden.“


Der britische König Georg V. mit seiner Frau Maria von Teck, der Schwägerin der Prinzessin Alice. Er regierte während des Krieges.

Schrecken des Ersten Weltkrieges: Britische Soldaten schleppen einen verwundeten Kameraden durch den Schlamm vom Schlachtfeld an der Westfront. ( Archiv)

Alice' Bruder Carl Eduard stieg 1933 in der NSDAP auf.

HINTERGRUND: Kriegsfolgen

Quelle:
Princess Alice, For My Grandchildren. Some Reminiscences of Her Royal Highness Princess Alice, Countess of Athlone, Evans Brothers Limited, London 1966.

Literatur:
Gordon Brook-Shepard, Edward VII. Ein europäischer Herrscher, Wilhelm-Heyne-Verlag, München 1980.
Catrine Clay, König Kaiser Zar. Drei königliche Cousins, die die Welt in den Krieg trieben, Bertelsmann-Verlag, München 2008.
Sir Sidney Lee, Eduard VII. 2 Bände, Paul-Aretz-Verlag, Dresden 1928.
Gerhard Menk, Das Ende des Freistaates Waldeck. Möglichkeiten und Grenzen kleinstaatlicher Existenz in Kaiserreich und Weimarer Republik, zweite, erheblich erweiterte Auflage, Bad Arolsen 1998.
Gerhard Menk, Waldecks Beitrag für das heutige Hessen, zweite, erheblich erweiterte Auflage, Wiesbaden 2001.
Jane Ridley, Bertie. A Life of Edward VII, Vintage Books, London 2013.
Wilfried Rogasch (Herausgeber), Victoria & Albert. Vicky & the Kaiser. Ein Kapitel deutschenglischer Familiengeschichte, Katalog des Deutschen Historischen Museums, Berlin 1997.
Jörg Schüttler, Eifriger Förderer von Kunst und Wissenschaften. Leopold von Albany – Sohn der britischen Queen Victoria und Gemahl der waldeckischen Prinzessin Helene, in: Mein Waldeck 22, 24, und 25 / 2013.
Jörg Schüttler, „Weißt du, ich muss die Waldeck sehen…“ Die Briefe von Leopold von Albany an Großherzog Ludwig IV. von Hessen-Darmstadt, in: Mein Waldeck 3 und 4 / 2014.
Karina Urbach, Queen Victoria. Eine Biografie, Verlag C. H. Beck, München 2011.
Charlotte Zeepvat, Prince Leopold. 8e untold story of Queen Victoria’s youngest Son, Phoenix Mill 8rupp, Stroud 1998.

© "Mein Waldeck" WLZ Sa, 13.-27. September 2014 mit freundlicher Genehmigung von Dr. Karl Schilling
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